Insbesondere seit die Inflationsrate weit über das Ziel der Europäischen Zentralbank hinaus schießen, begegnen viele Kolleginnen und Kollegen solcherlei Statistiken mit größerer Skepsis. Das stellt uns auch in der Diskussion von gewerkschaftlichen Forderungen vor neue Herausforderungen. Die Inflation bzw. der Kaufkraftverlust trifft nicht alle gleich, gibt es also verschiedene Wahrheiten? Dem wollen wir hier nachgehen.
In der Tat erleben viele Menschen die Preisentwicklung unterschiedlich, das hat u. a. damit zu tun, dass wir unterschiedlich konsumieren. Wer etwa aufs Auto angewiesen ist, um zur Arbeit zu gelangen, spürt Spritpreisänderungen deutlicher als jemand ohne Auto. Ob Tabakwaren teurer werden, tangiert Nichtraucher*innen eher wenig. Daneben spielen auch psychologische Effekte eine Rolle: Eine Verteuerung gerade bei Gütern des täglichen Bedarfs fällt uns eher auf als ein gleichgebliebener Preis und in so manch einer Erinnerung („Als ich in der Grundschule war kostete das Kaugummi noch 10 Pfennig“) schleichen sich auch Fehler ein oder man vergisst, dass sich seitdem auch am Einkommen etwas nach oben verändert hat. Doch genug der (Küchen-) Psychologie, zurück zum Fachlichen:
Die aktuellen Teuerungsraten sind historisch hoch. Die monatliche Inflationsrate, also der Vergleich zum Vorjahresmonat, seit März stetig über 7 %. Unterschiedliche Waren verteuern sich unterschiedlich hoch (Business-Insider berichtet exemplarisch über die Berg- und Talfahrt verschiedener Lebensmittelpreise). Die Preissprünge bei Energie und Nahrungsmitteln dominieren weiterhin das Inflationsgeschehen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung der Hans-Böckler-Stiftung (IMK) stellt fest, dass dadurch vor allem Einkommensschwache und Alleinlebende von massiven Preisanstiegen betroffen sind. So arbeiteten die Forschenden repräsentative Haushaltsgruppen mit unterschiedlichen Betroffenheiten heraus:
„Die höchste Teuerungsrate von 8,8 % verzeichneten im August 2022 den sechsten Monat in Folge Familien mit geringem Nettoeinkommen (2.000-2.600 Euro). Die niedrigste Teuerungsrate hatten wie bereits seit Anfang des Jahres Ein-Personen-Haushalte mit einem Nettoeinkommen von mehr als 5.000 Euro (6,7 %).“ (IMK Inflationsmonitor, Policy Brief Nr. 133, September 2022, S. 4)
Wenn die Betroffenheiten so unterschiedlich sind, wie kommt man dann zu einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage? Das Statistische Bundesamt nutzt dafür die sog. Warenkorbmethode. Mit dem fiktiven "Warenkorb" ist in der Preisstatistik die Güterauswahl gemeint, die sämtliche Waren und Dienstleistungen des Geltungsbereiches des jeweils betreffenden Preisindex repräsentiert (https://www.destatis.de/DE/Themen/Wirtschaft/Preise/Glossar/warenkorb.html). Die Inflationsrate, von der wir regelmäßig lesen und hören, ist demnach ein Versuch der Realität nahe zu kommen mittels der Schaffung eines Durchschnitts.
Gefühlte, gespürte und tatsächliche Inflation können also tatsächlich variieren und zwar ohne dass irgendjemand oder irgendeine offizielle Stelle „lügt“ – auch das gilt es mal zu betonen. Das Statistische Bundesamt bietet sogar einen „Persönlichen Inflationsrechner“ – die Nutzung lohnt, insbesondere für Kolleginnen und Kollegen, die ihre monatlichen Ausgaben sehr genau auf dem Schirm haben: https://service.destatis.de/inflationsrechner/
Wenn wir Lohn- bzw. Gehaltsverhandlungen führen, beziehen wir aus dargestellten Gründen unterschiedliche Betroffenheiten in unsere Argumentation mit ein. Inflationsrate oder etwa die Inflation bezogen aufs Kalenderjahr spielen immer eine Rolle zur Orientierung.