In der Bundesrepublik wird so viel gestreikt wie lange nicht mehr. Erwartungsgemäß krakeelt es von Kapitalseite und Wirtschaftsliberalen unterschiedlicher Couleur nach „Maß halten“, Verantwortungsbewusstsein und Gefahren für den Wirtschaftsstandort. Teilweise wird dabei auch ein wirtschaftswissenschaftlicher Anstrich bemüht und arbeitgeberfinanzierte Netzwerke im Hintergrund eher ausgeblendet. Aus der Politik vernimmt man auch Rufe nach einer Einschränkung des Streikrechts, etwa im „Infrastrukturbereich“ oder in der „Grundversorgung“. Ist das deutsche Streikrecht nicht bereits restriktiv genug, müsste die Debatte nicht in eine ganz andere Richtung gehen?
"Streiks sind im Allgemeinen unerwünscht, weil sie volkswirtschaftliche Schäden hervorrufen", das ist einer der historischen Leitsätze im kollektiven Arbeitsrecht der Bundesrepublik. Der Satz stammt vom Carl Nipperdey, einem Mitverfasser des nationalsozialistischen Volksgesetzbuches und späteren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts (BAG). In seine Amtszeit beim BAG fielen Entscheidungen, die das kollektive Arbeitsrecht bis heute prägen. Denn ein Großteil des Streikrechts ist nicht etwa in Gesetzesform gegossen, sondern abgleitet aus dem Grundgesetz (Vereinigungsfreiheit) und dem Tarifvertragsgesetz. „Richterrecht“ nennen das einige.
So wird in der Bundesrepublik beispielsweise zwischen legalen Streiks und sog. wilden Streiks unterschieden. Legal(isiert) sind ausschließlich Streiks, zu denen ein Gewerkschaft aufruft. Und aufgerufen werden darf ausschließlich für tarifvertraglich regelbare Ziele. Daraus folgt, dass Streiks, zu denen nicht von einer Gewerkschaft aufgerufen wurde, zum Kündigungsgrund werden können oder das Streiks für politische Ziele (zum Beispiel ein geringeres gesetzliches Renteneintrittsalter wie aktuell in Frankreich) in der Bundesrepublik nach herrschender Meinung verboten sind. Ruft eine Gewerkschaft zu einem nicht „rechtmäßigen“ Streik auf, kann sie für finanziell Schäden haftbar gemacht werden. Und wäre ratzfatz pleite. Selbst wenn nur einzelne Forderungsbestandteile unrechtmäßig sein sollten, können Arbeitgeber mit einstweiligen Verfügungen gegen Streiks vorgehen. Empfehlenswert hierzu ist auch das Hörspiel-Feature „Den Unternehmen treu ergeben. Das paternalistische Arbeitsrecht Hans Carl Nipperdey“ vom Deutschlandfunk.
Das Recht auf Streik hat Menschenrechtscharakter. Es wird durch zahlreiche internationale Abkommen zugesichert. Die Bundesrepublik Deutschland wurde wiederholt dafür gerügt, dass politische Streiks hier ausgeschlossen oder bestimmte Beschäftigtengruppen (Beamtinnen und Beamte) davon ausgenommen sind. Das Grundgesetz, aus dem das Streikrecht abgeleitet wird, räumt ausdrücklich „jedermann und für alle Berufe“ das Recht Vereinigungen zur Wahrung und Förderung der Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen zu bilden ein (vgl. Art. 9 (3) S. 1 GG). Weiter heißt es „Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.“ Dass aber nur die Vereinigung zu Streiks aufrufen dürfe, steht dort nicht, sondern ist Ergebnis der (Nipperdeyschen) Rechtsprechung. Ebenso wie die rechtlichen Konsequenzen eines illegalisierten Streiks.
Wird das tradierte Streikrecht neuen Formen prekärer Arbeitsbedingungen noch gerecht? Das kann man infrage stellen. Denn es gibt sie, die Firmen, die darauf setzen, dass junge Menschen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist nur für kurze Zeit angestellt werden und nicht vertragsgemäß entlohnt werden. Es gibt Firmen, die wissentlich und willentlich Rechtsvorgaben aus dem Betriebsverfassungsgesetz, dem Arbeitszeitgesetz, dem Mindestlohngesetz u. v. m. brechen. Der Gesetzgeber sieht in solchen Fällen den (oft beschwerlichen) Gang vor das Arbeitsgericht vor. Dieser Gang kann erfolgreich sein und ist es häufig auch. Doch in der Kalkulation dieser Gesetzesbrecher spielt eine gewichtige Rolle, dass viele Beschäftigte diesen Weg zum Beispiel wegen Sprachbarrieren und/ oder rechtlicher Unkenntnis, aus Scham oder Angst nicht gehen. Es muss möglich sein, solch kriminelle Geschäftsmodelle schneller und effektiver anzugreifen.
Demokratie endet weder vor dem Werkstor noch vor dem Großraumbüro. Und die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen werden nicht nur vom eigenen Arbeitgeber gemacht und mitbestimmt, sondern eben auch in Ministerien und Parlamenten. Legitimer „Arbeitskampfgegner“, um im juristischen Sprachgebrauch zu bleiben, muss deshalb auch „die Politik“ sein oder werden können. Mit bloßer Stimmenabgabe alle vier oder fünf Jahre ist der demokratische Prozess gewiss noch nicht an seinem idealen Ende. Und nehmen wir mal an, die Rufe nach Einschränkungen des wie beschrieben bereits sehr restriktiven Streikrechts werden mal zu einer Gesetzesinitiative, wie sollte sich die arbeitende Bevölkerung gegen diese weitere Beschneidung ihres Grundrechts (!) wehren? Es wird Zeit, den Streik als ein demokratisches Mittel der Meinungsäußerung zu begreifen.
Schwer wird es allerdings, dieses neue Verständnis angesichts der aktuellen Rechtslage durchzusetzen. Welchen Anlass hätte eine Regierung, der Bevölkerung ein Druckmittel zu geben, gegen die eigenen Entscheidungen vorzugehen (wenn sie es denn der herrschenden Meinung folgend nicht bereits hat)? Und wie sollte sich das Recht erkämpft werden, wenn alle Organisationen, die dazu aufrufen dürfen*, für die finanziellen Folgen herangezogen werden können und damit postwendend pleite wären?
Dass wir ein – wenn auch eingeschränktes – Streikrecht haben, ist ein Erfolg jahrzehntelanger, blut- und tränenreicher Auseinandersetzungen. Insofern tun wir als abhängig Beschäftigte gut daran, dieses Recht so gut und konsequent wir können zu nutzen. Jedem Angriff auf das Streikrecht gilt es entschieden entgegenzutreten. Doch manchmal gelten auch alte Fußballweisheiten und nach einer ist Angriff bekanntlich die beste Verteidigung!
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*Die Frage nach dem „Dürfen“ (ob ein politischer Streik legal ist) sei übrigens eine sehr deutsche, berichtete Prof. Dr. Däubler über ein Gespräch mit einem belgischen Kollegen auf der Konferenz Gewerkschaftliche Erneuerung im Mai 2023.